Episode 5: The Intricacies
Rem – 23. September 2018
Ich wachte in meinem Bett auf. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen und sah mich um. Alles wie immer. Meine Comics waren noch immer in der einen Zimmerecke, zusammen mit meinen Action-Figuren, und das Aquarium mit den fröhlich herumschwimmenden Fischen erhellte den dunklen Raum. Ich sah auf den Digitalwecker auf meinem Nachttisch: 2:00 Uhr in der Früh. Ich war von lauten Geräuschen wach geworden, die von unten aus dem Wohnzimmer kamen. Leise stand ich auf und schlich zur Zimmertür. War ich irgendwie kleiner als sonst?
So leise wie möglich öffnete ich meine quietschende Zimmertür. Unten brannte das Licht und ich hörte meine Eltern. «Hör auf, Logan! Du bist betrunken!», rief meine Mutter. Sie klang… verängstigt. Etwas klirrte. Dad schien wieder Geschirr durchs Haus zu schmeissen. «N-nein! Ich beruhige mich… nicht, Melissa!!! Wo sind meine Kinder!», schrie mein Vater. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr so betrunken erlebt. Ich hörte Hope aus ihrem Zimmer weinen. Kurz wurde es still unten. Dann taumelte mein Vater Richtung Treppe: «Ich geh jetzt zu meiner Tochter!» Moms rannte schnell hinterher. Zumindest klang es so. Sie packte ihn: «Nein! So lass ich dich nicht zu meinem Baby!»
Ich hörte ein lautes Klatschen. Mein Vater schrie erneut: «Lass mich los!» Mom wimmerte, gab aber nicht nach: «So lass ich dich nicht zu meinen Kindern, du Monster!!!» Sie schrie. Schnell rannte ich nach unten. Auf der letzten Stufe erstarrte ich. Dort, im Wohnzimmer… lag meine Mutter auf dem Boden. Sie war absolut regungslos und hatte ein Küchenmesser in der Brust stecken.
Ich rannte so schnell auf sie zu, dass ich stolperte. Kurz vor ihr trat ich auf den Boden auf und landete mit den Händen in der Blutpfütze, die sich langsam um sie ausbreitete. Ihre Haut war absolut leblos. Ich schüttelte sie verzweifelt: «Mom? Mom?! Mom, sag was!!!» Keine Reaktion. Aber ich konnte nicht aufhören. Ich konnte vor lauter Tränen kaum sehen und meine Hände waren blutverschmiert. Ich schrie. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Hopes Weinen war lauter geworden. Die leblosen Augen meiner Mutter starrten ins Nichts. Und vor mir stand mein Vater, auf sein Werk herabblickend. Er lachte.
Ich schoss in meinem Bett hoch. Meine Atmung war wild und ich sah mich hektisch um. Ich war genau dort, wo ich letzte Nacht eingeschlafen war: im Waisenhaus. Im Schlafsaal der Jungs, um genau zu sein. Die anderen Waisenkinder schliefen alle noch. Ich liess mich wieder auf mein Kissen fallen. Verdammte Albträume! Seit fünf Jahren hatte ich keine Nacht mehr durchgeschlafen. Jede Nacht sah ich die leblosen Augen meiner Mutter und hörte das wahnsinnige Lachen meines Vaters.
Gerade, als ich dachte wieder einschlafen zu können, wurde mir mit voller Wucht auf die Stirn geschnipst. Ich öffnete die Augen und sah in das mürrische Gesicht eines ‘Betreuers’. Wir alle nannten sie nur Aufseher. Er schein keine gute Laune zu haben: «Beweg deinen Arsch, Tombs! Du hast heute Schule. Frühstück ist aus. Such dir wo anders was, oder halt bis zum Mittag durch.» Er stapfte wieder aus dem Zimmer.
Ich rieb mir die Augen und setzte mich auf. Zu meinen Füssen lagen meine einzigen Habseligkeiten: Meine Gitarre, die Mom mir zu meinem achten Geburtstag geschenkt hatte, und der graue Schaal, den Hope mir vor etwa einem Jahr gestrickt hatte. Ich trug ihn immer bei mir, meinen grössten Schatz. Ich öffnete die oberste Schublade meines Nachttisches und holte ein weisses T-Shirt und ein violette Karo-Hemd raus. Ich schlüpfte rein und zog mir danach noch ein abgekämpftes Paar Jeans an. Meine Converse hatten auch schon bessere Tage gesehen.
Ich warf mir den Schal um den Hals und schnappte meinen Schulranzen. Dann schlich ich leise aus dem Zimmer und schloss geräuschlos die Tür. Ich lief behutsam durch den Gang. Der Holzboden quietschte. Als ich beim Schlafsaal der Mädchen angekommen war, hielt ich kurz inne. Ich blickte nach links und rechts. Als ich sicher war, dass mich niemand beobachtete, öffnete ich die Tür. Ohne einen Laut schlich ich zu Hopes Bett. Sie war in ihre Decke eingekuschelt und schlummerte friedlich. Sie sah wie ein Engel aus, wenn sie schlief. Ich fuhr ihr vorsichtig durch die violetten Haare, dann küsste ich meine kleine Schwester auf die Stirn.
Es war hart für eine Siebenjährige ohne Eltern aufzuwachsen. Aber sie war immer so stark. Sie war das Licht meines Lebens… das letzte, was von meiner Familie noch übrig war. Wegen ihr hatte ich den Platz an der NY angenommen. Ich würde sie beschützen, egal vor was. Und ich würde sie aus diesem Höllenloch rausholen. Das hatte ich mir geschworen.
Ich betrat die Strasse. Ich hasste den Geruch von East Harlem am Morgen. Ich zog meinen Schal enger und begab mich in Richtung der Bay. Wie immer waren die Gangs und Dealer schon heiter am Werk. Ich versuchte den Zenit unserer Gesellschaft zu ignorieren und lief weiter. Es war schon langsam so kalt, dass ich meinem Atem zusehen konnte, wie er in einer kleinen Wolke meine Nase verliess. Meine Schulweg wurde auch von Tag zu Tag dunkler. Nach etwa 3 Blocks hatte ich mein liebstes Café in ganz Harlem erreicht. Also immer noch ein verdammt schäbiges Café. Aber immerhin schmeckte der Kaffee. Ich öffnete die Tür und das kleine Glöckchen am Rahmen klimperte.
Der Verkäufer, ein dickerer, tätowierter Mann mit schwarzem Dreitagebart, stand an der Theke und lass die Times. Nur unmerklich sah er auf, als ich vor die Theke trat. «Ein en doppelten Espresso zum Mitnehmen, bitte», bestellte ich. Er grunzte kurz, dann lief er zur Kaffeemaschine und liess meinen Wachmacher raus. Er stellte den Kaffeebecher auf die Theke und streckte die Hand aus: «7.50 macht das.» Ich sah ihn ungläubig an: «7.50?! Gestern war es noch 3.50!»
Er zuckte mit den Schultern: «Es sind harte Zeiten, Junge. Zahl, oder verschwinde.» Jetzt war ich sauer. Eigentlich machte ich das normalerweise nicht, aber er zwang mich dazu: «Und da lässt sich wirklich nichts machen?» Er sah mich genervt an: «Nein, da lässt sich nichts…» Weiter kam er nicht.
Seine Augen wurden glasig und er stand starr da. Ich streckt die Hand aus: «Kaffee, bitte!» Mit maschinellen Bewegungen griff er nach dem Kaffee und reichte ihn mir. Grinsend nahm ich ihn an, dann drehte ich mich um und griff nach der Tür. Ich hielt einen Moment inne. Dann drehte ich mich nochmal um, lief zur Theke und legte 3.50 Dollar auf die Theke. Verdient hatte er es zwar nicht, aber naja…
Als ich an der Bay ankam, war ich in meinem dünnen Outfit schon fast erfroren. Der Kaffee half allerdings. Mein Nektar und Ambrosia. Ich schlenderte die Docks entlang zur Fähre. Ich entdeckte Toni, die schon am Ende der Schlange stand, um an Bord zu gehen. Sie war mal wieder die Begeisterung persönlich und rockte den Emo-Style wie niemand anderer. Sie schien jedes Mal mehr Tattoos zu haben, wenn ich sie sah. Oder bildete ich mir das bloss ein? Ich stellte mich neben sie: «Hi, Toni. Alles fit?» Sie sah mich geistesabwesend an, dann zog sie sich ihre Kopfhörer aus dem Ohr. dröhnende Musik war hörbar, sofern man das als Musik bezeichnen konnte. Sie sah mich skeptisch an: «Was hast du denn an? Willst du dir ne Frostbeule holen oder was?» Ich zuckte mit den Schultern: «Hatte nichts anderes da. Was hörst du dir da an? Klingt… interessant.»
Sie streckte mir ihr Handy entgegen: Arch Enemy – Graveyard of Dreams. Was für ein Titel. Sie hielt mir den Kopfhörer hin: «Mal reinhören?» Ich schüttelte etwas zu energisch den Kopf: «N-nein, schon gut… ist glaube ich nicht so mein Style.» Sie steckte den Hörer wieder in ihr Ohr: «Selbst schuld.»
«Wenn das nicht Mr. Schlafmangel und Miss Gute Laune sind!» Nick kam uns entgegen. Er gab mi einen Klapps auf den Rücken und grinste: «Na, seid ihr auch so elektrisiert?!» Wie immer steckte er voller Energie. Bei einem Elektrizitäts-Quirk vermutlich unausweichlich. Seine blonden Haare sahen wie immer aus, als hätte er an einem Strommast geleckt und er trug sine liebste schwarze Lederjacke. Also eigentlich alles wie immer. «Wieso so enthusiastisch?», fragte ich trotzdem.
Nick sah mich perplex an: «Hast du’s noch nicht gehört? Heute sollen wir unsere Kostümdesigns abgeben! Und Mason hat gehört, dass wir heute unsere Heldennamen aussuchen dürfen! Schon was im Sinne?» Stimmt, das hatte ich komplett vergessen. Gut, dass ich das Design immer bei mir trug. Meine Kostümidee war ziemlich simpel und es fehlte noch die gewissen Kampfkomponente, die meinen Quirk ausglich. Aber fürs erste würde es reichen. Was den Namen anging: «Keine Ahnung. Hab’ ich noch nie wirklich drüber nachgedacht. Du?»
«Ich krieg bei all den geilen Ideen bald ‘nen Kurzschluss, das schwör ich dir! Aber Ich will bis zur Stunde warten, bis ich den besten bekanntgebe.» Ich nickte. Ich fragte mich, was Ed, Prim und Nate eigefallen war. Ich war keineswegs so kreativ wie Nate oder Prim. Mir fiel nicht mal jetzt ein Name ein. Wir betraten das Boot.
Während die beiden Gegensätze Nick und Toni sich unterhielten, ging ich unter Deck, um mir einen zweiten Kaffee zu besorgen. Ich sah durch die Fenster aufs Wasser hinaus. Die Sonne ging gerade auf, wodurch das Wasser in einem schillernden Orange leuchtete. Ich fand den Kaffeeautomaten und warf einige Münzen ein. Geistesabwesend sah ich zu, wie der Kaffee langsam in den kleinen Pappbecher lief. Schlafmangel war echt scheisse. Ich sah erst wieder auf, als mir überraschend auf die Schulter getippt wurde. Hinter mir stand Annie, die mir lächelnd entgegensah: «Na, Rem? Der Wievielte ist das heute?» Sie lachte und ich griff mir verlegen an den Hinterkopf.
Anastasia Van Hayward war ganz und gar nicht wie ich sie zu Beginn der Schulzeit eingeschätzt hatte. Sie kam aus einer reichen Familie von Helden, die alle eine Art von Heilungs-Quirk besassen. Wie ihr eigener Quirk, Healing Touch, der sich von selbst erklärte. Zuerst hatte ich angenommen, sie wäre nur eines dieser verwöhnten Rich-Chicks die alles im Leben nachgetragen bekamen und irgendwie verwöhnt waren. Aber mit ihrer freundlichen, liebevollen Art hatte ich nicht gerechnet. Sie war hübsch, witzig, klug… einfach alles.
Wir setzten uns an einen der Tische unter Deck und quatschten ein wenig. «Hast du dich schon für einen Heldennamen entschieden, Annie?», fragte ich. Annies grüne Augen funkelten: «Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Er soll meine Heilkräfte wiederspiegeln. Ich bin keine Kämpferin. Das wollte ich nie sein. Ich bin die Heldin, die für alle da ist und ihre Wunden heilt. Die Heldin, die man in der Not immer rufen kann. Eine Heldin des Friedens.»
«Mercy», sagte ich. Sie hob die Augenbraue. «Mercy», wiederholte ich. «Ich finde, der Name Mercy würde gut zu dir passen.» Ihr Gesicht hellte sich auf: «Rem, das ist der perfekte Name! Das wäre mir nie eingefallen. Tausend Dank!» Ich lachte: «Keine Ursache. Ist aber typisch, dass mir für alle etwas einfällt, ausser für mich selbst.»
Annie spielte mit ihrem Pferdeschwanz: «Also hast du selbst noch keinen Heldennamen gefunden?» Ich schüttelte den Kopf. «Naja, du hast ja noch ein bisschen Zeit. Es ist nur wichtig, dass er schön klingt. Ich will nicht, dass die Leute einen falschen Eindruck kriegen. Sie sollten dich so sehen, wie du bist. Als Helden!» Wow. Das hatte mich echt bewegt. Annie schien auch eine der wenigen zu sein, die nur mich sahen, und nicht meinen Quirk. Ich lächelte sie verlegen an: «D-danke Annie…»
Wir betraten den Campus. Alles war wie immer. Die Schüler hasteten umher und es war ein gewaltiges durcheinander. Als wir durch die Eingangstür der Schule schritten, bekam ich aus dem Nichts ein paar gezielte Schläge auf den rechten Arm. Neben uns standen Nate und Armin. «Na, Schlafmütze? Siehst mal wieder sehr fit aus. Brauchst wohl ‘nen kleinen Weckruf, was?» Ich schlug ebenfalls seinen Oberarm: «Sei bloss still, Akio! Wieso bist du so überstellig? Hat Prim heute was schlüpfriges an oder was?»
Nate sah mich teils amüsiert, teils argwöhnisch an: «Arschloch… Nein, heute ist doch der Einreichungstermin für unsere Kostüme! Ich freu mich schon wie blöd darauf, sie alle in Aktion zu sehen. Das ist ein Riesenschritt.» Armin lachte: «Ich bin genau so gehyped wie du, aber erst mal müssen wir sie herstellen. Rem, Annie, ihr könnt mir eure Entwürfe einfach geben. Seit ich das Freifach ‘Technik und Gadgets’ belegt habe, hab’ ich einen Schlüssel zum Werkraum. Ich leg sie Craftsman dann einfach hin.» Wir holten unsere Entwürfe raus und reichten sie Armin. Der Handwerker-Held Craftsman war dafür bekannt, dass er jeden Anzug und jedes Gadget an der Schule mit seinen Schülern anfertigte. Armin war in seinem Kurs definitiv gut aufgehoben.
Wir betraten das Klassenzimmer. Alle waren in hellem Aufruhr. Plötzlich bemerkte ich Kenny, der kopfüber von der Decke hing und komplett von Ranken umschlungen war. Er versuchte sich verzweifelt freizukämpfen, als er uns sah: «Nate! Rem! Gott sein Dank! Holt mich hier runter!! SIE IST WAHNSINNIG!!!» Sara lehnte an der Wand, fuhr durch ihre Rankenähnlichen, grünen Haare und schnaubte beleidigt. Ich trat an sie ran: «Was hat er getan, Sara?» Sie warf ihre Haare theatralisch zur Seite und zeigte auf den Boden: «Sie doch nur, was dieses Monster mit meinem Baby gemacht hat!» Am Boden lag eine ziemlich mitgenommene Topfpflanze. Der Topf war fast komplett zerbrochen und die Erde war überall verstreut. Ich sah zu Kenny hoch: «Sorry, Kumpel. Lässt sich nichts machen. Gewöhn dich schonmal ans Leben als menschlicher Kokon.»
«Zum letzten Mal, es war ein Unfall! Ein UNFALL! Bitte, Sara! Lass mich bitte runter…» Emma schüttelte den Kopf: «Ist ja gut, du Heulsuse. Eigentlich bist du selbst schuld, aber ich helfe dir.» Sie trat unter Kenny, sprang zu ihm hoch und tippte ihn kurz an. Auf einmal schrumpfte unser Freund vor unseren Augen auf die Grösse einer Maus und landete in Emmas Händen. Verwirrt sah er sich um, dann grinste er: «Mann, ist das cool, so klein zu sein!» Seine Stimme war geradezu quietschend hoch, als ob er eine Überdosis an Helium aufgesaugt hätte. Er lehnte sich über Emmas Handfläche hinaus: «Wow, deine Titten wirken so viel grösser! Hübscher Ausschnitt übrigens.» Emma machte ein angewidertes Gesicht: «Du mieser, kleiner Perversling! Dir werde ich’s zeigen!» Sie schnappte sich Hannahs Trinkflasche, warf Mini-Kenny ins kalte, für ihn kniehohe, Wasser und schloss den Deckel.
Sie stellte ihn auf den Tisch: «Hier Hannah. Er gehört dir.» Hannah nahm verdutzt die Flasche in die Hand, dann erschien ein diabolisches Grinsen auf ihrem Gesicht: «Lass uns etwas Spass haben, Stanley…» Kenny schluckte: «B-bitte, Hannah! Wir sind doch… sowas ähnliches wie Freunde, nicht?» Sie bekam fast einen Lachanfall. «Tief Luft holen», sagte sie und schüttelte die Flasche exzessiv.
Plötzlich schoss ein graues Stoffband um ihren Arm. In der Tür standen Mr. Aizawa und Repulsor standen in der Tür. Das Stoffband kam von Aizawas Schaal. Konnte er den etwa kontrollieren? Krass. Er sah Hannah streng an: «Lass ihn raus. Miss Little, vergrössern sie Mr. Stanley bitte wieder auf Originalgrösse. Sofort!» Einen Moment später stand Kenny vollkommen durchnässt in der Mitte des Klassenzimmers: «Ist das alles?! Wollen Sie sie nicht bestrafen?!» Mason drehte sich entnervt zu ihm um: «Halt den Rand, Stanley! Du hast es doch verdient, oder nicht?! Jetzt setz dich auf deinen scheiss Arsch und halt die Fresse!!!» Kenny setzte sich still auf seinen Platz.
«Guten Morgen Klasse. Schön zu hören, dass ihr eure Kostümentwürfe schon eingereicht habt. Mr. Ziegler hat sie bereits vorhin abgeliefert. Nun beschäftigen wir uns allerdings mit etwas, was fast noch wichtiger für euer Heldenimage ist, als eure Kostüme…», begann Aizawa. «HELDENNAMEN!!! OH YEAH, BABY!!!», rief ihm Repulsor dazwischen. Oliver kratzte sich verwirrt den Kopf: «Was machen Sie eigentlich hier, Mr. Repulsor?» Repulsor sah legte ihm die Hand auf die Schulter und lugte über den Rand seiner Sonnenbrille hinaus: «Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen, Ollie-Champ! Heute geht’s aufs Ganze!»
Aizawa verdrehte genervt die Augen: «Richtig… wie Mr. Grayson gerade… ‘treffend’ formuliert hat, werdet ihr heute eine der wichtigsten Entscheidungen in eurer gesamten Heldenkarriere treffen. Diese Namen solltet ihr keineswegs leichtfertig wählen. Ab einem gewissen Punkt wird man euch nur noch unter diesen Namen kennen. Verwendet also etwas, womit ihr leben könnt. Ihr habt ein paar Minuten Zeit, um nochmal drüber nachzudenken. Danach fangen wir an. Schreibt euren Namen auf ein Stück Papier, dass ihr dann der Klasse präsentieren könnt.»
Jetzt war es also so weit. Ich dachte nach, speziell über Annies Worte. Der Name musste passen, sollte den Leuten aber auch zeigen, dass ich ein Held war. Ich wollte nicht wieder von der Öffentlichkeit als Bösewicht abgestempelt werden. Immerhin war ein hypnoseartiger Quirk wie meiner durchaus einschüchternd… Dann kam mir der Geistesblitz! Schnell schrieb ich den Namen auf das Blatt Papier. Dass mir das nicht schon früher eingefallen war!
Als erstes trat Nico nach vorne: «Ich hab’ was ausgesucht, dass zu meinem Quirk und meiner dunklen Persönlichkeit passt», sagte er dramatisch. Er drehte den Zettel um: Nightmare. «Alter, mega-sick! geilster Name ever!», applaudierte Nick. Der Rest von uns klatschte ebenfalls. Der Name passte wirklich zu Nico. Er war genauso edgy und dramatisch wie unser Klassenkamerad. Nick war der nächste: «Sorry Leute, aber nach mir wird’s nicht mehr besser! Macht euch bereift für den coolsten Heldennamen aller Zeiten!!!» ruckartig drehte er das Papier um: Electrode. Ebenfalls sehr passend.
Es ging weiter mit Harry (Pyro-Eyes), Oliver (Streaking Crystal), Naomi (Peek-a-Boo), Sara (Flower-Girl) und Emma (Scalevity). Als nächstes war Annie dran. Sie trat etwas nervös vor die Klasse. Sie atmete tief durch: «Ein guter Freund hat mir diesen Namen empfohlen. Ich hoffe, er zeigt mich als die schützende und fürsorgliche Heldin, die ich bin. Der Name Mercy kam zum Vorschein. Alle klatschten. Dieser Name passte wie die Faust aufs Auge. Und ich sagte das nicht nur, weil er von mir war. Er würde der Welt zeigen, was für eine Heldin sie war. Der Typ Heldin, der einfach nur allen helfen wollte. Eine wahre Heldin!
Es folgten Kenny (Magnetoid), Hannah (Bee-Girl), Toni (Inkflow), Holly (Singularity) und Armin (Cyber Punk). Dann kam ich an die Reihe. Ich trat vor die Klasse: «M-mit diesem Namen… mit diesem Namen werde ich der Welt zeigen, dass ich besser bin als das, was sie in mir sehen. Ich werde ein Held, egal was irgendwer sagt.» Ich drehte das Papier um. Der Name kam zum Vorschein: Hypnotiser. Die anderen klatschten. «Passt echt gut. Hat irgendwie was Mystisches, fast schon magisches. Gefällt mir!», kommentierte Nick.
Als nächstes kamen Prim (Mrs. Frost) und Ed (The Thinker). Dann war Mason an der Reihe. Er zog eine selbstgefällige Grimasse: Seht euch das mal an, ihr Extras!» Sein Heldenname war Inferno. Wow… überraschenderweise wirklich gut! Seinen Applaus geniessend setzte er sich wieder. Nun fehlte nur noch jemand. Nate trat vor die Klasse. Einen Moment starrte er nur auf sein Stück Papier. Dann sah er uns mit allem Selbstbewusstsein an, dass er aufbringen konnte an. Ich spürte seine Nervosität: «Ich… ich habe diesen Namen gewählt, weil er jedem in dieser Stadt etwas bedeutet. Ich will nicht, dass er vergessen wird. Ich will, dass er weiterlebt! In uns allen… und nun auch… in mir!» Er drehte das Papier um:
Redox
Für einen Moment war alles still. Das hatte ich nicht kommen sehen. Aber er hatte recht. Wenn jemand das Vermächtnis des Helden Nummer 1 weiterführen sollte, dann Nate! Ich begann zu klatschen. Prim und Ed stimmten ein. Dann Armin, Kenny, Holly… einfach alle! Ein tobender Applaus brach aus. Sogar Aizawa und Repulsor klatschten. Nates Augen funkelten stolz. Er würde den Namen in eine goldene Zukunft führen, da war ich mir sicher.
Aizawa meldete sich zu Wort.: «Ausgezeichnet. Mit diesen Namen wird man euch erkennen. Aber denkt nicht, es würde einfach werden. Vor euch liegt noch ein weiter Weg. In wenigen Wochen werden wir schon die erste praktische Übungseinheit abhandeln. Es wird benotetes Kampf- und Strategietraining. Also bereitet euch besser darauf vor. Das ist alles.»
Die Stunde war vorbei und der Rest des Tages verflog wie im Flug. Nach der letzten Stunde machten wir uns alle auf den Weg zum Ausgang. Auf halbem Weg nach draussen bemerkte ich allerdings, dass ich mein Matheheft vergessen hatte. «Leute, ich muss noch kurz mein Matheheft holen. Bin gleich wieder da.» Nate, Prim, Ed und Annie stellten sich an den Ausgang und warteten auf mich. Ich beeilte mich.
Ich hastete durch die Gänge. Alles schien wie ausgestorben. Irgendwie gruselig, in einer so grossen Schule. Ich rannte weiter an den Klassenzimmern und Abstellkammern vorbei und schliesslich auch am Lehrerzimmer. Ich kam zu einem Stopp, als ich etwas hörte. Aizawa und Repulsor führten ein Gespräch, dass scheinbar für die Ohren von niemand anderem bestimmt war.
«Ich muss sagen, dass war heute echt spassig, meinst du nicht Shouta? Obwohl man sagen, Eraser-Head ist immer noch am besten. Logisch, der Name ist ja auch von mir. Die Kids entwickeln sich langsam echt. Die werden noch krasse Helden, da wett’ ich drauf!», begann Repulsor. «Schon möglich, Matt. Willst du auf was raus?», fragte Mr. Aizawa. Repulsor räusperte sich: «Ich… ich finde wir sollten es dem Jungen sagen. Nate hat verdient, die Wahrheit zu erfahren!» Einen Moment wurde es still im Raum.
«Nein!», antwortete Aizawa schliesslich kalt. «Aber vielleicht wird es ihm helfen, wenn er erfährt, was damals wirklich mit Redox… ich meine mit William passiert ist.» argumentierte Repulsor. Aizawa wurde laut: «Ich habe nein gesagt, Matthew! Ich habe mir etwas geschworen, an dem Tag als Nate hier die Prüfung absolviert hat. Ich habe seinen Vater schon verloren. Ich war nicht schnell genug, um ihn zu retten. Und jetzt, da Maya auch noch weg ist… Ich werde ihn beschützen. Das bin ich Will schuldig! Aber ich werde dem Jungen nicht sagen, dass ich zu schwach war, um seinen Vater zu retten! Das kannst du nicht von mir verlangen… Nein… das kannst du nicht…» Seine Stimme wurde brüchig.
Ich stand nur geschockt da. Nun war es im Lehrerzimmer plötzlich ganz still geworden. Leise lief ich weiter. Aber was ich gehört hatte, konnte ich nicht vergessen. Nachdem ich mein Heft geholt hatte, kehrte ich zu den anderen zurück. «Alles ok, Rem? Du siehst blass aus», fragte Nate. Ich verharrte einen Moment, dann nickte ich: «Alles ok, ja. Bin nur etwas müde, das ist alles.» Nate grinste: «wie immer, was?» Die anderen lachten. Ich setzte ein Lächeln auf. Was ich vorhin gehört hatte, war eine Geschichte für einen anderen Tag. «Kommt schon, sonst verpassen wir die Fähre», hetzte uns Ed.
Auf dem Weg ‘nach Hause’ dachte ich nach. Was hatte es mit diesem Gespräch auf sich gehabt. Was hatten Eraser-Head und Repulsor mit Nates Vater am Hut? Und wer war diese Maya, von der die Rede gewesen war? Was war an jenem Tag wirklich passiert? Irgendwas passte da nicht zusammen. Aber ich wollte Nate damit nicht belasten. Noch nicht.
Etwa 20 Meter vom Waisenhaus entfernt fiel mir ein Polizist in glänzender Uniform auf. Er schien nicht ganz hier nach Harlem zu passen. Was machte der Kerl hier? Überraschenderweise kam er mir entgegen, als er mich sah: «Rem Tombs?» Ich nickte: «Der Leibhaftige. Was wollen Sie? Ich hab’ nichts angestellt, ok?»
«Nein, darum geht es nicht», fing er an. Er reichte mir einen Umschlag: «Der ist von ihrem Vater. Er würde sie gern sehen. Ich komme geradewegs von Rikers. Es schien dringend zu sein. Ich nahm den Umschlag entgegen: «Sie können ihm was von mir ausrichten.» Ich zerriss den Umschlag in kleine Fetzen. «Er kann mich mal am Arsch lecken!!!»
Ich warf die Fetzen wie Konfetti hinter mich, als ich dem perplexen Beamten den Rücken zukehrte und Richtung Waisenhaus lief. Was dachte dieser Bastard eigentlich was er macht? Mir Postkarten aus’m Urlaub schicken?! Mieses Schwein. Mich interessierte einen feuchten Dreck, was er zu sagen hatte. Missmutig lief ich weiter, kam aber wieder etwas runter, als ich vor dem Waisenhaus stand.
Auf den Stufen vor der heruntergekommenen Haustür sass ein kleines Mädchen mit violetten Haaren, das ungeduldig wartete. Als Hope mich sah sprang sie auf und rannte geradewegs in meine Arme: «Rem-Rem! Du bist wieder da! Wo warst du so lange? Ich hatte Angst ohne dich…» Ich drückte sie fest an mich, als ob sie meine einzige Verankerung zur Welt wäre. «Tut mir leid, Hope. Heute hat die Schule etwas länger gedauert. Hätte allerdings nicht gedacht, dass es so spät wird…» Ich sah auf die Uhr. Der Weg von der Bay bis nach Harlem war echt zu lang.
«Wie war die Schule? Und wie geht’s deiner Freundin?», fragte sie mit ihren neugierigen kleinen Augen. Ich lachte: «Sie war ganz ok. Und sie ist nicht meine Freundin. Wir sind nur… befreundet. Ausserdem heisst sie Anastasia.» Hope neigte den Kopf verwirrt zur Seite: «Aber du lächelst immer so, wenn du von ihr redest. Was ist überhaupt der Unterschied?» Ich wuschelte ihr durch die Haare: «Das erklär ich dir, wenn du älter bist. Jetzt komm, Zeit fürs Abendessen.»
Spät in der Nacht lag ich noch wach. Die anderen Jungs waren alle schon eingeschlafen und schnarchten vor sich hin. Die kalte Nachtluft kam mir durch das offene Fenster entgegen und der Mond leuchtete auf den Zimmerboden. Leise stand ich auf und trat ans Fenster. Der Holboden knarzte. Ich sah nach draussen. Der Vollmond war grösser, als ich ihn jemals zuvor gesehen hatte. Ich sah in die Welt hinaus. Ich versuchte nicht oft daran zu denken, aber ich hasste es hier wirklich, mit jeder Faser meiner Seele.
Ich hasste es, dass Hope hier leben musste. Ich hasste es, dass wir nie Geld hatten. Ich hasste es, dass mein Vater brutal meine Mutter erstochen hatte. Ich zitterte. Meiner Augen wurden feucht. Ich wischte sie mit meinem Ärmel ab. Ich kam an Hopes Schaal, den ich wegen der kalten Nacht immer noch trug. Gut, vielleicht hasste ich nicht alles. All diese Menschen, die mich antreiben… Hope, Nate, Prim, Ed und all die anderen… Vielleicht war ich doch noch nicht ganz verloren.
Ich dachte daran, was Mom immer gesagt hatte: ‘Das wichtigste im Leben sind deine Familie und deine Freunde. Also behandle sie gut, Rem. Ohne sie bist du nicht mehr du. Die Menschen um uns herum machen uns zu dem, was wir sind. ’ Ich vermisste sie. In diesem Moment konnte ich wirklich etwas mütterliche Führung gebrauchen, mit all dem, was gerade so vor sich ging.
Aber sie hatte Recht gehabt. Hope und meine Freunde machen mich zu dem, der ich bin. Und für nichts auf der Welt würde ich sie aufgeben. Ich wollte andere von mir überzeugen. Deswegen wollte ich ein Held werden. Aber es gab noch einen anderen Grund. Ich wollte die beschützen, die mir wichtig sind. Bis zum bitteren Ende. Und wenn es sein musste, würde ich dafür der grösste Held aller Zeiten werden. Das war mein Traum. Ein friedliches Leben, zusammen mit denen, die mir am nächsten standen. Ein Leben, dass ich nie gelebt hatte.
Die Strassen unter mir schienen wie ausgestorben. Ich sah hinauf in den Sternenhimmel. Die Sterne schienen unnormal klar für Manhattan. Plötzlich blitzte eine Sternschnuppe auf. Hell und klar zog ihr Schweif über den Nachthimmel, bis sie schliesslich verschwand. Das brachte ein Lächeln aus mir heraus.
Vielleicht… konnten Träume ja wirklich wahr werden.
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