Heroes of Tomorrow – Episode 4

Heroes of Tomorrow – Episode 4

Episode 4: Family Burdens

 

Primrose – 2. September 2018

 

Ich hielt meine Atmung flach. Die Nacht war erstaunlich kalt für Anfang September. Vorsichtig balancierte ich auf meinem rechten grossen Zeh. Die Teichoberfläche unter mir war jetzt fast komplett gefroren. Auf den ersten Blick erkannte man das Muster des Eises gar nicht. Wenn man jedoch genauer hinsah, erkannte man die Schneeflocken und Wassertropfen, die sorgsam in das Eis eingearbeitet waren. Mein Training hatte sich wirklich ausgezahlt.

 

Das Schulgelände war wie ausgestorben. Warum auch nicht, es war ja schliesslich 11 Uhr in der Nacht. Untypische Zeit, um zu trainieren, aber ich konnte einfach nach der Schule noch nicht nach Hause. Mit Dad zusammenzuleben. Wurde immer schlimmer. Ich dachte an Shoto… an Leo… und an Mom. Mir steckte ein Kloss im Hals, und meine Augen wurden feucht. Bevor ich es merkte verlor ich mein Gleichgewicht. Ich versuchte, mich noch zu fangen, aber bevor ich es versah ging das Eis knirschend in die Brüche und ich war Unterwasser.

 

Einen Moment lag ich nur so im Wasser und sah zum Vollmond hoch. Er tauchte die Nacht in ein geisterhaftes Licht. Ich wünschte mir, die Zeit anhalten zu können. Aber dann tauchte plötzlich eine Silhouette auf und zog mich aus dem Wasser. Ich sah in Nates Gesicht: «Alles… ok… mit dir?» Er war völlig ausser Atem und trug seinen blauen Jogginganzug. «Ja… ja, alles ok. Was machst du hier?» Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. «Dasselbe könnte ich dich fragen», sagte er lachend. «Nein, ich bin nur hier um etwas zu Joggen. Das Parkgelände der Schule ist echt gut für sowas. Macht den Kopf frei.»

Wir sassen an der Treppe vor dem Schultor und sahen auf den Rücken der Freiheitsstatue. Sie war wunderschön im Licht des Mondes. Ich verfluchte mich selbst, weil ich ohne Kamera aufgekreuzt war. Nate hatte mir seine Jacke übergestreift, damit ich mich nicht erkältete. Wir sassen eine Weile ruhig da und genossen die Stille der Nacht.

 

«Also… warum bist du hier?», fragte er nach einer Weile. Ich wusste nicht recht, wie ich die Frage beantworten sollte. Es gab keinen wirklichen Grund, abgesehen vom Status Quo mit meinem Vater. «Ich wollte nur nicht nach Hause. Es gibt Tage, da halt ich es mit meinem Vater nicht aus. Er will immer nur, dass ich werde wie er. Dass ich besser werde. Besser… als dein Vater», sagte ich zögerlich. Nate nickte. Er kannte den Konkurrenzkampf, den unsere Väter geführt hatten. «Und deine Mom?», fragte Nate.

 

«Dad hat Mom nur wegen ihres Quirks geheiratet. Wasserbändigen und das Verändern des Wasserzustands sind sowas wie eine perfekte Kombination. Und mein Dad wollte den perfekten Nachfolger erschaffen, den er nach belieben kontrollieren und lenken konnte. Also war das mit Mom eher eine ‘arrangierte Ehe’. Dauernd haben sie gestritten. Und… eines Tages war sie weg. Er hat immer gesagt, sie wäre einfach verschwunden. Aber ich hab’ ihm nie ein Wort geglaubt. Sie hätte uns nicht zurückgelassen. Das ist jetzt acht Jahre her. Mein grosser Bruder Leo ist vor einem Jahr abgehauen, nachdem er mit der Heldenschule fertig war. Er hatte genug von Dad. Und er wollte rausfinden, wo Mom ist. Seitdem hab’ ich nichts mehr von ihm gehört. Jetzt sind es nur noch ich, mein Dad und Shoto.»

 

«Shoto?», sah mich Nate neugierig an. «Mein kleiner Bruder. Früher hab’ ich versucht, das zu werden, was mein Vater will, um ihn zu beschützen. Aber am Ende hat es doch nichts gebracht. Er übt genau soviel Druck auf diesen kleinen, unschuldigen Jungen aus, wie auf mich. Er kann sich nicht mal an Mom erinnern. Ich… ich vermisse sie…», erklärte ich mit brüchiger Stimme. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Nate legte mir den Arm um die Schulter. Er schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte. Ich versuchte mich wieder zu fangen: «T-tut mir leid. Ich weiss nicht, warum ich das alles über dir ausleere. Ich meine, wem erzähl ich das eigentlich?»

 

Nate zuckte mit den Achseln: «Klar, ich kann keine Bälle fangen, oder mich anständig rasieren. Aber meine Mom war für mich da. Dank ihr hab’ ich viele nützliche Dinge gelernt. Wie stricken, oder über ‘ne Stunde lang über irgendeine Drama-Romanze zu labbern.» Ich lachte. Der Witz war nicht so lustig gewesen, aber trotzdem kugelte ich mich. Die Vorstellung vom strickenden Nate war zu köstlich. Vielleicht hatte ich einen guten Lacher auch einfach mal wieder nötig.

 

Ein eisiger Wind kam uns entgegen. Ich zitterte. Nate musterte meine nassen Klamotten: «So wird das nie trocknen. Wir müssen dich nach drinnen schaffen. Soll ich dich nach Hause begleiten?» Ich schüttelte den Kopf: «Mein Dad ist noch wach. Wenn er merkt, dass ich noch weg war… sagen wir ich hab’ nicht wirklich Lust auf das Ende der Welt. Sonst noch Ideen?»

 

Nate schien was einzufallen, zögerte aber: «Du… du könntest dich auch bei mir aufwärmen…» Ich setzte einen etwas skeptischen Blick auf. Nate lief rot an, rettete sich aber sofort: «Meine Mom macht einen super Kaffee. Und ich verspreche dir, sie wird dich nicht mit irgendeiner Romanze, die sie sich gerade ansieht, zutexten.» Ich lächelte. Warum eigentlich nicht?

 

«…eigentlich will sie ihn aber gar nicht heiraten. Sie liebt ja schliesslich seinen Bruder und…», erzählte Mrs. Akio ausführlich, bis Nate sie abwürgte. «Mom! Ich hab’ ihr extra versprochen, dass du nicht ununterbrochen über sowas reden würdest. Also könntest du es bitte sein lassen?!», fragte er verlegen. Seine Mom schien wie aus einer Art Trance aufzuwachen: «Oh… rede ich etwa zu viel? Tut mir leid. Nate bringt nur so selten Freunde mit nach Hause. Erzähl doch mal ein bisschen was über dich, Schätzchen. Nate hat erzählt, du wärst Aquatics Tochter. Wie ist das so?»

 

Ich dachte genau über die Frage nach und beantwortete sie dann mit der allgemeinsten Antwort, die möglich war: «Anstrengend. Aber ich komm’ schon zurecht.» Mrs. Akio schien nicht so rechtzufrieden mit der Antwort zu sein, beliess es aber dabei. Wir redeten noch eine Weile über die Schule, aber irgendwann zog sich Mrs. Akio zurück: «Ihr Kinder wollt sicher noch ein bisschen für euch allein sein. Ich mach mich dann mal vom Acker.» Als sie in ihr Schlafzimmer ging, schien es mir für einen Moment so, als hätte sie Nate zugezwinkert. Hatte mich wohl verkuckt.

 

Jetzt sassen ich und Nate allein am Esstisch, schlürften unseren Kaffee und sahen schweigend aus dem Fenster zur East Avenue runter. Die Strassenlampen tauchten die Umgebung in ein milchiges Licht. New York war zur Abwechslung mal komplett still. Ziemlich untypisch für die Stadt, die niemals schläft. Ich dachte an meine Mom. Und an Leo…

 

«Wann hast du das letzte Mal was von deinem Bruder gehört?», fragte Nate, als hätte er meine Gedanken gelesen. Normalerweise wich ich allen Fragen über meinen grossen Bruder aus, aber ich hatte mit Nate sowieso schon drüber geredet. «Vor einem Jahr, als er ging. Er hat mir damals gesagt, dass er Mom um jeden Preis finden würde. Er konnte ihr Verschwinden genauso wenig akzeptieren wie ich. Das hier hat er mir zum Abschied gegeben», sagte ich und kramte in meiner Tasche herum. Ich legte das Foto auf den Tisch. Es war unser letztes Familienfoto von vor acht Jahren. Ich und Leo waren noch kleine Kinder gewesen. Shoto schlief in Moms Armen. Sie sah glücklich aus, aber ihre Augen verrieten die Wahrheit. Auch Dad hatte ein falsches Lächeln aufgesetzt. Nate sah sich das Bild an: «Du warst echt süss als Kind.» Ich zog die Mundwinkel etwas nach oben: «Danke.»

 

Nach einer Weile machte ich mich bereit um aufzubrechen. Nate lieh mir seine Jeansjacke, weil es doch langsam kalt draussen wurde. Selbst für meine Verhältnisse war mein Sport-Outfit etwas zu dünn. Bevor ich ging hielt er mich fest: «Hey… ich bin sicher, egal wo dein Bruder und deine Mom sind… sie denken an dich. Sie wären Idioten, wenn sie’s nicht täten.» Ich lächelte und umarmte ihn: «Danke für den Kaffee Nate… und auch für alles andere.»

 

Draussen war es mittlerweile trotz der Lichter ganz gruselig geworden. Ich brach in Richtung Central Park auf. Auf meinem Weg dachte ich über Nate nach. Er hatte mir heute so beigestanden. Es war mir schon klar, dass er vermutlich an mir interessiert war, aber es schien viel mehr als das zu sein. Ich war ihm wirklich wichtig. Bei diesem Gedanken konnte ich mich einfach nicht davon abhalten zu schmunzeln. Nate Akio, was bist du bloss für ein Kerl…

 

Auf einmal wurde mir immer unwohler. Ich fühlte mich irgendwie… beobachtet. Ich schob es auf einfache Paranoia, lief aber trotzdem etwas schneller. Ich wusste gar nicht, worüber ich mir Sorgen machte. Dieser Teil von Manhattan war sicherer als jeder andere und es war ja nicht so, dass ich mich nicht zur Wehr setzen konnte, wenn es nötig wäre.

 

Ich hörte hinter mir ein rascheln in den Büschen. Ruckartig drehte ich mich um und nahm eine kampfbereite Position ein. Es raschelte nochmal. Jetzt hatte ich es ganz genau gesehen. Ich war schon bereit anzugreifen, als… eine schneeweise Katze aus den Büschen sprang und vor meinen Füssen sitzen blieb. Sie neigte neugierig ihren Kopf zur Seite, als würde sie sich fragen: «Was zum Henker macht dieses Mädchen in dieser bescheuerten Pose da?»

 

Ich kniete mich vor ihr hin und kraulte sie hinterm Ohr. Sie schnurrte liebevoll. Als ich aufhörte, sprang sie ins nächste Gebüsch. Ich stand wieder auf. Und atmete tief durch. Ich war definitiv zu paranoid. Kam wohl vom Heldentraining. So, jetzt aber ab nach Hause. Gerade als ich den ersten Schritt machte, landete mein Schuh in einer kleinen Wasserpfütze. Wo kam die denn her? Es hatte doch seit Tagen nicht geregnet. Komisch. Ich dachte mir nichts weiter dabei.

 

Der Lift ging auf und ich betrat unsere gewaltige Penthouse-Wohnung. Sofort hörte ich schnelle Schritte und bevor ich es kommen sah, umarmte mich Shoto schon heftig. Ich hob ihn hoch und strich ihm durch sein weissschwarzes Haar: «Na, Eiszäpfchen? Hast du mich vermisst?» Shoto nickte. Seine blauen Augen leuchteten: «Ich hab’ heute mit meinem Quirk Wassereis für die ganze Klasse gemacht! Ist das nicht mega-COOL?!» Ich lachte: «Du wirst ja schon richtig gut, Kleiner. Warum zeigst du’s mir nicht?» Shoto strahlte übers ganze Gesicht, sprang mir aus den Armen und in Richtung Küche: «Gleich wieder da, Sis!»

 

Ich liebte diesen Jungen. Er war immer voller Leben und verbreitete Freude wo auch immer er hinging. Das schönste an ihm waren seine Haare. Die eine Hälfte war schwarz, die andere weiss. Sowas wie eine Fusion aus unseren Eltern. Der Kleine wurde immer schwerer. Ich konnte mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich ihn ohne Probleme im Arm halten konnte. Als Mom verschwunden war, hatte ich mir geschworen, auf ihn aufzupassen. Und dieser Schwur galt bis heute.

 

Ich trat an die grossen Glasfenster des Wohnzimmers und blickte auf die Landschaft des Central Parks hinaus. Dieser Anblick würde nie langweilig werden. Ich und Leo hatten immer pausenlos damit genervt, dass wir in den Central Park wollten, allein wegen dieser Aussicht. Mom hatte aber immer eingelenkt. Sie hätte uns nie etwas ausschlagen können. Wir hatten ganze Tage im Grün des Parks verbracht. Seit Leo weg war hatte ich den Park nicht mehr betreten. Zu viele Erinnerungen.

 

«Wo warst du?», hörte ich die tiefe Stimme meines Vaters hinter mir. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Er trug ein hochgekrempeltes Hemd, um seine einschüchternden Muskeln zu präsentieren. Sein Blick war eisig. Aber die Tour zog bei mir schon lange nicht mehr: «Ich war trainieren. Musste den Kopf frei bekommen. Und dann bin ich zufällig noch in… eine Freundin reingerannt. Sie hat mich zu einem Kaffee eingeladen und wir haben die Zeit vergessen. Ist das ein Problem?»

 

«Ist die Jacke von ihr?», fragte er beschuldigend. «Ja, warum?», fragte ich unschuldig zurück. Er griff meine Schulter, lehnte sich zu mir runter und sah mir tief in die Augen: «Weil ich mehr von dir erwarte, als dass du dich den ganzen Abend mit irgendwelchen Jungs herumtriebst. Du hast einen Ruf zu verlieren. Du bist das zukünftige Symbol des Friedens. Wenn du nochmal so spät nach Hause kommst, wird das Konsequenzen haben. Verstanden?!» Ich sah auf den Boden, um seinem Blick auszuweichen. «Verstanden…», antwortete ich widerwillig. Er grunzte und zog ab. Diese Schlacht hatte er gewonnen.

 

Nach einer Weile kam Shoto wieder angerannt. Er hatte jede Menge Saft und Eisstiele in der Hand: «Also, es funktioniert ungefähr so…» mein Vater rief aus seinem Arbeitszimmer: «Ins Bett, Shoto. Ich dulde nicht, dass du so lange auf bist.» Shoto zuckte zusammen, als er die Stimme unseres Vaters hörte. Enttäuscht sah er auf den Boden, dann lief er geknickt in Richtung seines Zimmers: «Vielleicht morgen, Sis. Sorry.»

 

So liess ich ihn nicht ins Bett gehen. Ich wartete einige Minuten, dann lief ich hinterher und öffnete seine Zimmertür. Am Boden waren seine Actionfiguren verstreut. Mir fiel erst heute auf, dass keine einzige von Dad dabei war. Wie überraschend. Shoto war in sein Bett eingemummelt und blätterte in einem Comic-Heft. Er blickte mich überrascht an. «Kuscheln?», fragte ich. Sehnsüchtig hielt er mir die Arme hin.

 

Als wir da so im Licht seines Nachtlichtes lagen, stellte Shoto die Frage, die er jeden Abend stellte: «Kannst du mir von Mom erzählen?» Jede Nacht versuchte ich mir etwas Neues einfallen zu lassen. Leider wurde es immer schwerer. Ich überlegte eine Weile, fand dann aber doch was: «Einmal, da waren ich, Mom und Leo in der Mall, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Plötzlich war Leo aber weg. Wir suchten überall nach ihm, den ganzen Nachmittag. Mom hatte sogar geweint. Am Ende fanden wir ihn aber direkt neben dem Weihnachtsmann, der ein lustiges Gespräch mit ihm führte. Nachdem Mom dem Weihnachtsmann tausend Mal gedankt hatte, liess sie Leo die ganze Weihnachtszeit nicht mehr von ihrer Seite. Immer hatte sie ihn fest umklammert. Es war echt süss. Leo fand es allerdings nicht so lustig.»

 

Shoto kicherte. Der 21-jährige Leo musste ihm in so einer Situation ziemlich lächerlich vorkommen. Es war ja auch verdammt witzig gewesen. Nach einer Weile fragte Shoto: «Vermisst du sie eigentlich, Mom und Leo?» Ich schwieg eine Weile. «Ja… jeden Tag», antwortete ich mit brüchiger Stimme. Shoto umarmte mich fester: «Ich auch.»

 

Als er eingeschlafen war, schlich ich langsam raus und betrat mein eigenes Zimmer. Schnell hatte ich mich umgezogen und kroch in mein warmes, wohliges Bett. Nates Jacke hing über einer meiner Staffeleien. Ich durfte morgen nicht vergessen, sie mitzunehmen. Und mein Tisch konnte auch mal eine Generalüberholung vertragen. Überall häuften sich Skizzen und Zeichnungen. Aber das war ein Problem für Zukunfts-Prim.

 

Im schwachen Licht der New Yorker Skyline nahm ich das Familienfoto nochmal hervor. Leo und ich sahen auf diesem Bild so glücklich aus. Es schien eine Million Jahre her zu sein. Ich sah mir das Bild jeden Abend an. Nur um Moms Gesicht nicht zu vergessen. Ich war sicher, dass mein Dad etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Der Grund, warum ich seine Hälfte meines Quirks nicht einsetzte. Ich lehnte ihn ab. Deswegen verwendete ich auch den Mädchennamen meiner Mutter und nicht Dads Nachnamen. Ich wollte niemals so werden wie er. Ich legte das Bild auf meinen Tisch und kuschelte mich in meine Decke. Der Schlaf liess nicht lange auf sich warten.

 

Am nächsten Morgen war ich schon früh an der Bay. Ich trug meine schwarze Lederjacke, die Leo mir vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Mein Quirk sorgte zwar für eine gewisse Kälteresistenz, mittlerweile war es aber doch ganz schön kühl geworden. Über der einen Schulter trug ich meinen Rucksack, über der anderen Nates Jacke. Ich hoffte ihn auf der Fähre abfangen zu können, aber wenn nicht, war es auch kein Weltuntergang. Ich würde ihm einfach in der Schule die Jacke zurückgeben.

 

«Hi, Prim!» Ich erschrak als, ich hinter mir die Mädchenstimme hörte, die sonst so unscheinbar war. Hinter mir stand Holly. Sie sah mich über ihren Brillenrand an und war warm in ihren Rollkragenpulli eingemummelt. Ihre wuschigen, schwarzen Haare fielen ihr wie immer ins Gesicht. Als sie meinen Schock bemerkte, lief sie rot an: «t-tut mir echt leid! Ich wollte dich nicht erschrecken. Tut mir echt mega-leid!» Da war meine unsichere, kleine Klassenkameradin auch schon wieder, mit dem ich mich die letzten paar Wochen angefreundet hatte. Obwohl man sagen musste, dass sie sich in letzter Zeit sehr geöffnet hatte. Ich wusste auch genau, an wem das lag.

 

«Hey, wartet auf mich! Lasst doch euren besten Mechaniker nicht zurück!», rief Armin, als er angerannt kam. Wenn man vom Teufel spricht. Er hatte wie immer ein schlecht geknöpftes Hemd an und trug lauter Blaupausen unterm Arm. Seine Schutzbrille war wie immer blitzblank auf seiner Stirn. Keuchend kam er neben uns zum Stehen. «Ich… ich glaub ich brauch… ‘ne Pause…», keuchte er ausser Atem. Holly holte sofort eine Flasche Wasser raus und hielt sie ihm hin. Er nahm einen kräftigen Schluck, dann erholte er sich wieder. Holly stand ziemlich nah an ihm dran, wie mir auffiel.

 

«Also… ihr beide macht jetzt ziemlich oft was miteinander, was?», fragte ich. Holly wurde wieder rot und sah mich wütend an. Armin bemerkte sie gar nicht und sah mich verdutzt an: «Klar, so ist das doch bei besten Freunden.» Ja klar, Armin. Wer’s glaubt wird selig. Holly wollte wohl von sich ablenken, denn jetzt nahm sie mich ins Kreuzfeuer: «Und was ist mit dir und Nate? Ihr verbringt auch ziemlich viel Zeit miteinander.» Miese Frage. «Wir sind nur Freunde. Nicht was du denkst. Ausserdem sind Ed und Rem doch auch immer dabei, wenn wir uns treffen», log ich. Holly verdrehte die Augen, beliess es aber dabei. Wir schlenderten in Richtung Fähre. Armin sah irgendwie perplex aus: «Hab’ ich was verpasst?» Ich lachte: «Komm schon, du Nullpeiler. Wir müssen unser Boot erwischen. Sonst kommen wir zu spät.» Er sah noch verwirrter aus als vorher.

 

Als wir auf dem oberen Deck der Fähre angekommen waren, vertieften sich Armin und Holly sofort in ein Gespräch über Armins neue Erfindung. Oder besser gesagt, Armin erzählte und Holly lauschte verliebt dem Klang seiner Stimme. Da ich mich nicht unnötig einklinken wollte, hielt ich nach anderen Klassenkameraden Ausschau. Sofort entdeckte ich Hannah und Annie, die an der Reling lehnten und so aussahen, als würden sie gerade tratschen. Ich zog mich aus der Affäre und lief zu ihnen hin.

 

«Hi, Leute. Na, über wen zerreisst ihr euch heute das Maul?» Hannah strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und strahlte: «Prim!» Sie zog mich in eine feste Umarmung. Ich konnte hören, wie ihre Fühler aus ihrem Kopf schossen. Wie immer, wenn sie glücklich oder aufgeregt war. Wie immer sah sie wie geleckt aus. Oh mein Gott, wenn ich das in Anwesenheit von Kenny laut gesagt hätte… Anastasia sah nicht anders aus. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte gleichmässig im Wind und sie hatte wie immer ihr schönstes Lächeln aufgesetzt: «Hi, Primi. Tatsächlich geht’s gerade um dich. Um dich und Nate, um genau zu sein.»

 

Ich warf die Hände in die Luft: «Nicht ihr auch noch! Ich hab’ Holly vorhin schon gesagt: Wir sind nur FREUNDE!» Annie lachte: «Würdest du so genervt reagieren, wenn wir unrecht hätten?» Mir fiel keine Antwort ein, also tat ich, was jeder rationale Erwachsene getan hätte: Ich verschränkte die Arme, lehnte mich über die Reling und schwieg meine beiden Freundinnen an. Hannah legte mir den Arm über die Schultern: «komm schon, Prim! Ich brauch dringend irgendwas Skandalöses. Ich bin auf Gossip-Entzug.»

 

«Dann erfüll doch Kenny endlich seinen grössten Wunsch», antwortete ich ihr grinsend. Annie unterdrückte ein Lachen. Hannah verzog das Gesicht: «Sorry, aber perverser, frauenfeindlicher, kleiner Nerd ist nicht so mein Typ. No chance!» Wir alle lachten bei dem Gedanken an Hannah und Kenny als Pärchen.

 

Wir schlenderten entspann in Richtung Campus. Ich entdeckte Nate und Rem, die vor Finnicks’ Statue standen und ein energiegeladenes Gespräch führten. Wahrscheinlich redeten sie über den neuen Mission Impossible, den sie vor zwei Tagen zusammen im Kino gesehen hatten. Seitdem redeten sie pausenlos darüber, wie cool ein Leben als Geheimagent wäre. Jungs… Ich hastete zu ihnen. Als ich noch kurz nach hinten blickte, sah ich Hannah, die mit ein paar Bienen eine Herzform in die Luft zeichnete. Annie machte ein übertrieben verliebtes Gesicht. Grossartige Freundinnen. Nate sah mich kommen und winkte mir strahlend zu. Ich warf ihm seine Jacke zu: «Danke nochmal. Ich sollte öfter ohne Jacke rumlaufen. Deine ist echt bequem.» Nate lachte: «Sorry, aber ich brauch sie noch. Wir sind nicht alle so kälteresistent wie du, Fräulein Frostine.» Rem legte mir den Arm über die Schulter und lächelte Nate diabolisch an: «Und wir wollen doch nicht, dass dem armen Natie kalt wird, oder?» Lachend liefen wir in Richtung Eingang, während Nate sich verlegen den Hinterkopf kratzte.

 

«Also gut, Klasse. Heute habe ich eine einfache Aufgabe für euch.» Begann Mr. Aizawa. Wir standen alle in einer Reihe auf dem Turnplatz hinter der Schule. Alle warteten gebangt auf die schreckliche Prüfung, die unser Klassenlehrer uns auftragen würde. In den letzten Wochen hatte das Heldentraining uns körperlich an unsere Grenzen gebracht. Was kam als Nächstes?

 

Aizawa trat zur Seite Hinter ihm kam eine Kiste mit Kugelstoss-Bällen und ein Monitor hervor, der zum messen der Distanz da war. Aizawa sah uns durchdringend an: «Heute werdet ihr einen Ball so weit schiessen, wie nur irgend möglich.» Was?! War das etwa alles? «Los, stellt euch in einer Reihe auf!», befahl Aizawa ohne weitere Erklärung. Wir stellten uns auf.

 

Als erste war Annie dran. Sie hob die Kugel hoch, legte sie wie eine professionelle Kugelstosserin an und warf. Sie kam auf eine beachtliche Distanz von etwa 15 Metern. Nicht schlecht. Nach Anerkennung suchend wandte sie sich an Aizawa, aber der schüttelte nur den Kopf. Ich drehte mich zu Nate und Rem um: «Was will er von uns?» Die beiden zuckten nur mit den Achseln. «Ich glaube, er will unsere Kreativität testen. Wie wir mit unseren Quirks zusammenarbeiten. Seht doch mal!», zeigte Ed, der vor mir stand, nach vorne. Naomi stand nun an der Markierung zum Abschuss. Sie hielt den Ball locker in der Hand und sah ihn an. Plötzlich verschwand er. Auf der Anzeige tauchte eine Zahl auf: «Hundert Meter. Sehr beeindruckend, Naomi.»

 

Jetzt verstand ich! Ich musste mir überlegen, wie ich meinen Quirk optimal nutzen konnte. Ich schnappte mir die Wasserflasche aus meiner Turntasche. Irgendwas würde mir schon einfallen. Kenny war am Zug. Er zog die Kugel mit seinen Magnetkräften zu sich hin. Dann drehte er die Polarisierung um und der Ball schoss durch die Luft. 90 Meter. Beim zur Seite treten zwinkerte er Hannah angeberisch zu. Sie verdrehte die Augen.

 

Als nächstes Mason. Er stellte sich hin und atmete tief durch. Mit all seiner Kraft und einem markerschütternden Schrei warf er die Kugel los, wobei er ihn mit einem gewaltigen Strahl aus Feuer antrieb. Wir konnten den Landeplatz nicht mehr sehen. «200 Meter. Unglaublich, Mr. Parker», lobte ihn Aizawa. Triumphierend trat Mason zur Seite: «Macht das mal nach, ihr Anfänger!»

 

Herausforderung angenommen. Ich bereitete mich schonmal mental vor, während Ed seine Telekinese dazu einsetzte, denn Ball auf eine Entfernung von 170 Metern zu befördern. Jetzt war ich dran. Ich trat an den Ball heran… und liess ihn liegen. Statt ihn aufzuheben nahm ich viel Anlauf. Ok… kein Ding. Ich würde mir bei diesem Plan nur VIELLEICHT den Fuss brechen. Ich rannte mit einem Affenzahn auf den Ball zu. Im letzten Moment schüttete ich das Wasser aus meiner Flasche auf mein rechtes Bein und vereiste es. Mit all meiner Kraft trat ich den Ball weg. Das Eis zerklirrte splitternd, aber mein Plan war aufgegangen. Mein Bein war absolut unversehrt. Ich sah auf die Anzeigetafel. 75 Meter! Aizawa nickte anerkennend: «Sehr schlau, Miss Frostine.»

 

Nate war dran. Er absorbierte die Energie einer Batterie. Sofort danach schnappte er den Ball und holte aus. Dann aber, kurz vor dem Schuss, stockte er: «Mein Quirk… er aktiviert sich nicht.» Aizawas Augen leuchteten rot: «Er funktioniert nicht, weil ich ihn deaktiviert habe.» War das etwa Mr. Aizawas Fähigkeit? Konnte er etwa Quirks deaktivieren?! Wie cool!!! Er blinzelte und seine Augen hörten auf zu leuchten. Er trat an Nate heran: «Wenn du wieder all deine Kraft in den Wurf setzt, wirst du dir die Schulter auskugeln. Ich habe doch gesagt, du bist keine Hilfe, wenn du nur einmal zuschlagen kannst und dann kampfunfähig bist. Du funktionierst doch wie eine Batterie, oder? Dann verwende nur einen Prozentsatz deiner Kraft. So hast du mehr Energie aus einer Energiequelle und du kannst weiterkämpfen. Auch, wenn der Angriff dafür nicht so stark ist. Sei kein Glass-Panzer, sondern ein normaler Raketenwerfer. Verstanden?»

 

Nate schien eine Offenbarung zu haben und nickte heftig. Erneut stellte er sich an die Markierung, atmete tief durch und schloss die Augen. Er holte aus… und warf den Ball. Mit unglaublicher Geschwindigkeit schoss er durch die Luft. Längst nicht so schnell wie Nate bei der Aufnahmeprüfung, aber schnell genug. Der Ball flog weit in die Ferne. Erneut konnten wir den Aufschlagpunkt nicht sehen. Alle sahen gespannt auf die Tafel… 210 Meter! Masons Kopf fing Feuer. Buchstäblich.

 

Nates Arm schien in Ordnung. Vielleicht etwas rot, aber sonst ok. Er grinste und strahlte Mr. Aizawa an: «D-danke Sir!» Aizawa winkte ab: «Schon gut. Keiner weiteren Erwähnung wert. Machen wir weiter.» Woher hatte er so genau gewusst, wie Nates Quirk funktionierte? Nate wusste das ja selbst nicht mal…

 

Die Sonne ging schon langsam unter, als wir mit dem Training fertig waren. Wir packten unsere Sachen zusammen und machten uns auf den Weg zu den Umkleiden, die hinter einer der grossen Wiesen des Schulareals lagen. Als ich um die Ecke bog, bemerkte ich aber im letzten Moment noch, dass Aizawa mit Rem diskutierte. Ich hätte nicht lauschen dürfen, aber ich tat es trotzdem.

 

«Mr. Tombs, mir ist ihre spezielle Situation bewusst. Die Schule würde sich sicher bereiterklären, sie woanders unterzubringen, wenn Sie…» Rem unterbrach ihn: «Schon in Ordnung, Mr. Aizawa. Ich kann da nicht weg. Ich kann meine kleine Schwester nicht im Stich lassen. Trotzdem danke für das Angebot.» Aizawa nickte anerkennend. Was hatte das den zu bedeuten? Rem kam angelaufen, weswegen ich mich schnell aus dem Staub machte. Aber dieser Sache würde ich noch auf den Grund gehen.

 

Ich holte Nate auf der Wiese ein. Er sah sich gerade den Sonnenuntergang an. Ein wunderschöner Anblick, wie die Sonne über der Stadt unterging. Erneut verfluchte ich mich dafür, dass ich meine Kamera nicht dabeihatte. Rem kam dazu und war auch sprachlos von der Schönheit dieses Moments. Wir standen alle einfach nur still da und sahen uns diesen grossen, orangen Lichtball an, der langsam von unserer Heimatstadt verschluckt wurde.

 

Nate sah mich an: «Hey, ich wollte dich gestern noch was fragen. Wieso willst du eigentlich eine Heldin werden? Bei mir, Rem und auch den anderen ist das klar. Aber was ist mit dir?» Ich erinnerte mich. Ich sass auf der Couch mit meiner Mom. Der Fernseher lief. Das Bild zeigte Redox, wie er einige Verletzte aus den Trümmern eines Buswracks trug. Er hatte sein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht und das hellblaue Sternemblem auf seiner Brust glänzte. Ich war begeistert von dem Anblick. Ich rannte zum Fernseher und hüpfte auf und ab. Meine Mom lachte: «Sieht so aus, als würdest du auch eine Heldin werden wollen, was, Eiszäpfchen?» Ich sah sie strahlend an: «Ja! Das will ich unbedingt, Mom!»

 

Ich lächelte bei der Erinnerung. Dann bemerkte ich, dass Nate und Rem mich immer noch fragend musterten. Ich zuckte mit den Schultern: «Keine Ahnung. Ich schätze, mit meinem Dad war das immer irgendwie klar gewesen. Die beiden sahen mich erst verdutzt an, dann lachten sie. Ich stimmte ein. Nate grinste: «Na, dann mal sehen, ob ihr das Zeug zu Helden habt. Wer zuletzt bei den Umkleiden ist, muss den anderen eine Woche lang die Hausaufgaben machen!» Er rannte ohne Vorwarnung in Richtung der Umkleiden. «Hey, unfair! Dich krieg ich, du mieser kleiner…», rief Rem hinterher und nahm lachend die Verfolgung auf. Ich nahm ebenfalls die Beine in die Hand, auch wenn ich nicht beabsichtigte, zu gewinnen. Aber ich schwor mir etwas:

 

Mom… Ich werde dich finden! Ich will, dass du mich als Heldin siehst!!!

 

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